Heute wählt Österreich. Was mich in den vergangenen Wochen und Monaten des Wahlkampfes begleitet, war ein Gefühl des Privilegs der demokratischen Mitsprache. Interessant vielleicht deshalb, weil ich dieses Privileg kognitiv immer schon bewusst geschätzt habe. Emotional gefühlt, war die Demokratie aber die für mich hierzulande einzig denkbare und damit in gewisser Weise als unveränderlich und selbstverständlich angenommene Regierungsform. Dabei wird in Zeiten globaler Unsicherheit und Krisen merklich spürbar, dass sie eben keine selbstverständliche Gegebenheit ist. Ich erinnere mich an die wiederkehrende Aussage meiner Geschichtelehrerin in der Schule: „Wer die Demokratie verschläft, wacht in der Diktatur wieder auf.“ Damit wird klar, Demokratie kann nur durch unsere Aufmerksamkeit, einen verantwortungsvollen Gestaltungswillen und aktives Handeln existieren.

Doch wo wird unser Engagement und unsere soziale Beteiligung sichtbar? In unserer unmittelbaren Umgebung. In unserer Familie. In unserer Nachbarschaft. Dass Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern ebenso eine Lebensform darstellt, darauf hat der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey schon vor ca. einhundert Jahren hingewiesen. In den alltäglichen, zwischenmenschlichen Beziehungen praktizieren wir demokratische Aushandlungsprozesse, die nach Dewey auch bewusst pädagogisch geschult werden sollten. Demokratie ist erlern- und erlebbar.

Mancherorts aber werden die Schwachstellen unserer sozialen Aushandlungsfähigkeiten sichtbar. Dort wo bei pluralen Meinungen und unterschiedlichen Interessen ein lebendiger kommunikativer Austausch zu einem anti-demokratischen Verhalten im Sinne von Ignoranz, Rassismus, etc. mutiert. Das Internet, respektive das Social Media schafft hierfür einen nährenden Boden, wenn wir bei Debatten um politische und soziale Themen ungefilterte, enthemmte Reaktionen zeigen. Unsere eigenen Schattenseiten nach außen zu spülen, gelingt noch einfacher, wenn wir die Möglichkeit haben, uns in der Anonymität des world wide webs verstecken zu können.

In unserer physisch sozialen Umgebung agieren wir nach jenen Spielregeln des Zusammenlebens, die unsere Kooperationsfähigkeit einfordern. Was also macht die nachbarschaftliche Beziehung demokratisch so wertvoll? Die amerikanische Politikerin Nancy Rosenblum meint, dass wir in der zwischenmenschlichen Beziehung mit unseren Nachbarn eine demokratisch- ethische Haltung einnehmen, derer wir uns nicht zwangsläufig bewusst sind, sondern die in der alltäglichen sozialen Interaktion gelebt wird. Die Grundprinzipien, nach denen wir handeln, sind ein GEBEN und NEHMEN (Ich füttere deine Katze, dafür leerst du meinen Postkasten), SEINE -STIMME ERHEBEN (bei Schreien und heftigem Streit aus der Nachbarswohnung reagiere ich), LEBEN und LEBEN LASSEN (obwohl mein:e Nachbar:in durch ihre:seine Eigenheiten auffällt, kann ich sie:ihn damit annehmen).

Aber auch hier können jene Herausforderungen auf uns warten, auf die wir auch online stolpern. Menschen, die unserer Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens nicht entsprechen. Nachbarn, die sich ständig und immer über alles beklagen, die alte Frau von nebenan, die ihren Rassismus laut rausposaunt, der grantige Hauswart, der mit Kindern schimpft – für ein friedliches und gelingendes Miteinander braucht es manchmal mehr als unsere gelebte Solidarität. Die Demokratie als Regierungsform stellt gesetzliche Regelwerke und Institutionen bereit, die uns in der Klärung unterstützen oder die im Bedarfsfall auch entscheiden. Denn so wie unsere Nachbarschaft bunt und vielfältig ist, so sind es auch die Menschen, die unseren Staat ausmachen.

 

Quellen:

Demokratie ist machbar, Herr Nachbar! Warum gute Nachbarn nicht automatisch gute Bürger sind; Peter Fritz, geschichtedergegenwart.ch

Good neighbors: Democracy in everyday life in America, Rosenblum, Nancy; 2016

Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Dewey, John; 1930

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Von: Anna

29. September 2024

Bild: freepik.com

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