Die Menschen reden. Mit-, aber auch übereinander. Und seit der Erfindung von Social Media sogar ganz bequem vom eigenen Bett aus. Man braucht sich also nicht einmal mehr zu sehen. Wir hören, lesen Dinge auf der einen Seite, erleben sie selbst auf der anderen. Denn es macht einen Unterschied, ob wir Geschichten aus zweiter, dritter ja sogar vierter Hand erfahren, oder aber eben persönlich anwesend sind, die Dinge am eigenen Leib erleben. Sie können sich verändern, inhaltlich in eine ganz andere Richtung gehen, von Mensch zu Mensch anders interpretiert, im Sinne der Sensationsgier neu erfunden werden. Und so passiert es, dass es von ein und derselben Erzählung immer wieder unterschiedliche Interpretationen gibt. Wie schmerzhaft das sein kann, erlebt man meist erst dann, wenn die eigene Geschichte verdreht wird, man selbst nicht mehr alleine als Erzählerin oder Erzähler derselben dasteht.

Stille Post im wahren Leben
Da wird das Kind mit den dunklen Haaren mit einem Mal zum Migranten, die junge Frau im kurzen Kleid zur Prostituierten, der Mann im Park zum Arbeitslosen. Vor allem in der Nachbarschaft, da wo man einander vielleicht nur flüchtig kennt, sich aber dennoch immer wieder über den Weg läuft und gegenseitig beobachtet, kann die berühmte Gerüchteküche besonders laut brodeln. Und so passiert es, dass ein Alleinerziehender Vater, der immer wieder wankend und lallend gesehen wurde, mit einem Mal als verantwortungsloser Alkoholiker abgestempelt wird. Er würde sich so nicht um das Kind kümmern können, in seinem Zustand sogar Autofahren, wäre eine Gefahr für jedermann. Und überhaupt frage man sich allmählich, woher das Geld für den ganze Alkohol eigentlich komme. Die Geschichte wird aufgebauscht, immer größer, zieht ihre Kreise. Wer jedoch genauer hingesehen, auch nur einmal nachgefragt hätte, würde wissen, dass genau dieser Mann an einer vererbbaren Nervenkrankheit leidet, dass das manchmal so unbeholfene Gehen, das undeutliche Sprechen mit Alkoholkonsum jedoch nichts zu tun hat. Niemand hat ihn auf das merkwürdige Verhalten angesprochen, versucht, sich ein genaueres Bild der Situation zu machen. Stattdessen wurde das Nachbarschaftsservice des Friedensbüro gerufen, um Hilfe gebeten. Erst im Zuge unserer Gespräche und mit Zustimmung des Mannes kam die Wahrheit hinter dem vermeintlich alkoholisierten Verhalten schließlich ans Licht.

Beispiele wie dieses gibt es viele und sie zeigen, wie wichtig es ist, auch mal nachzufragen, nicht alles sofort für bare Münze zu nehmen. Wir wissen oft nicht, was dahinter steckt, kennen meist nur die eine Seite der Medaille. Umso essenzieller also, die Dinge zu hinterfragen, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Und selbst dann hat es noch immer nicht jede Geschichte nötig, weitererzählt zu werden. Es gibt Dinge, die können das Gegenüber verletzen, auch wenn sie vielleicht der Wahrheit entsprechen. Dinge, die nicht zwingend hinausposaunt werden müssen. Denn wie sagte einst Sokrates zu einem Mann, der ihm etwas erzählen wollte? „Nur Geschichten die wahr, gut und unter allen Umständen gehört werden müssen, sind es wert, erzählt zu werden!“. Ein Satz, dessen Inhalt wir uns alle zu Herzen nehmen und beim nächsten Gerücht auch wirklich in die Tat umsetzen sollten.

Weiterführende Informationen:
Nachbarschaftsblog des Friedensbüro

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Von: Biene

5. Oktober 2018

Bild: Grafik: Christina Hauszer

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