Mein Name ist Nina Possert, gebürtig aus Graz, Andritz.

Im Rahmen meines Studiums der Internationalen Sozialen Arbeit absolvierte ich einen achtmonatigen Friedensdienst der Stadt Graz in einem Kinderheim in einem benachteiligten Stadtteil in Buenos Aires, Argentinien. Zusätzlich zur Unterbringung von Kindern begleitet das Heim Mädchen bzw. junge Frauen zwischen 12 und 21 Jahren, die Opfer von Vernachlässigung, Kinderprostitution Gewalt oder sexuellem Missbrauch in ihren Familien wurden.

Ziel des Heims ist es, die jungen Frauen auf ein selbstständiges Leben vorzubereiten. Da viele Menschen bei einer Adoption eher kleine Kinder bevorzugen, ist die Wahrscheinlichkeit für Jugendliche deutlich geringer, adoptiert zu werden. Das Heim bietet einen sicheren Rahmen, damit die Mädchen einen Schulabschluss machen können und die Chance haben, danach eine weiterführende Ausbildung beginnen zu können.

Meine Arbeit vor Ort war vielseitig: Ich begleitete die Mädchen zu Arztterminen, unterstützte sie bei den Hausaufgaben und organisierte Workshops zur Sexualaufklärung. Auch alltägliche Aufgaben wie Sachspenden sortieren, Mahlzeiten zubereiten oder Freizeitaktivitäten gestalten gehörten dazu. Besonders wichtig war jedoch der Beziehungsaufbau. Viele der Mädchen hatten tiefes Misstrauen gegenüber Erwachsenen, aufgrund ihrer traumatischen Geschichten. Mit Geduld, Empathie und Verlässlichkeit gelang es mir, Schritt für Schritt Vertrauen aufzubauen. Das war einerseits eine Voraussetzung dafür, dass ich meine Arbeit machen konnte. Darüber hinaus lernten die Mädchen so, zu Fremden Vertrauen zu entwickeln.

Viele vertrauten mir ihre Geschichte an, die mich alle zutiefst schockiert haben. Manche der Mädchen wurden jahrelang systematisch von ihren männlichen Familienmitgliedern wie Väter, Onkeln, Großvätern oder Brüdern sexuell missbraucht, bevor sie in Sicherheit gebracht wurden. Ein Mädchen wurde von ihrer Mutter mit einer Kette an die Türe des Kinderheimes gekettet, da sie sie nicht mehr wollte und die Ausgaben für ihre Tochter nicht mehr tragen konnte. Ein anderes Mädchen wurde zum Betteln alleine in die U-Bahn gesendet und dort vergessen und nach Tagen alleine gefunden, bevor sie zu uns ins Heim gekommen ist.

Die Wirtschaftskrise in Argentinien verschärft die Lebensumstände vieler Kinder und Frauen. Armut, Inflation und soziale Unsicherheit nehmen zu, während wichtige staatliche Strukturen, wie das Ministerium für Frauen vom derzeitigen Präsidenten Javier Milei, aufgelöst wurden. Dadurch fehlt es an Schutz und Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Auch in meiner Einrichtung war der Druck spürbar: Immer wieder kündigten Kolleg*innen aufgrund der hohen Belastung und der niedrigen Löhne, was die Betreuungssituation zusätzlich erschwerte.

In einem Umfeld mit knappen Ressourcen lernte ich, flexibel und lösungsorientiert zu arbeiten. So entstanden aus Stoffresten Näh-Workshops, aus gespendeten Lebensmitteln gemeinsames Kochen und aus Naturmaterialien kreative Kunstwerke. Dabei ging es nie nur um die Aktivität an sich: es ging um Selbstwirksamkeit, Teilhabe und darum, den Mädchen zu zeigen: Du kannst etwas, du bist wichtig.

Ein besonderes Herzensprojekt von mir war meine selbst entwickelte Workshopreihe zum Thema Selbstliebe. Viele der Mädchen kämpfen mit einem geringen Selbstwertgefühl und einem negativen Körperbild – eine häufige Folge traumatischer Erfahrungen. In interaktiven Einheiten sprachen wir über Selbstfürsorge, innere Stärke und den Umgang mit schwierigen Gefühlen. Mit kreativen Methoden wie Collagen, Affirmationen und Körperwahrnehmungsübungen schafften wir einen geschützten Raum, in dem die Mädchen sich ausdrücken und gegenseitig stärken konnten. Es war berührend zu sehen, wie aus anfänglicher Zurückhaltung ein Gefühl von Stolz und Gemeinschaft entstand.

Die Arbeit in diesem Heim hat mein Weltbild und mein berufliches Selbstverständnis nachhaltig geprägt. Ich konnte meine Rolle als Sozialarbeiterin in unterschiedlichen Bereichen erproben – als Begleiterin, Zuhörerin, Vermittlerin und manchmal einfach als Mensch mit offenem Herzen. Darüber hinaus: Was mir im Kopf klar war, habe ich nun auch erlebt: Ein menschenwürdiges Leben ist keine Selbstverständlichkeit: Es braucht kontinuierliche Anstrengung.

Ich bin dankbar für die Unterstützung der Stadt Graz, die mir diese intensive Zeit voller Herausforderungen, Lernmomente und echten Begegnungen ermöglicht hat.

Fotos im Beitrag: Nina Possert

One Comment

  1. Hannes Glanz 28. Mai 2025 at 22:15 - Reply

    Sehr berührend – und darüber hinaus bringt der Text wieder einmal die Erkenntnis, welch Glück es ist, in Österreich zu leben. Wer dafür nicht dankbar sein kann, dem sei die nochmalige Lektüre dringend ans Herz gelegt!

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Von: Gast

28. Mai 2025

Bild: Nina Possert

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