Leben ereignet sich in Räumen. Schon der Körper nimmt Raum ein, wir durchschreiten Räume, wenn wir uns bewegen. Wir besitzen Räume, wir haben Zutritt oder sind ausgeschlossen. Räume haben verschiedene Eigenschaften für die Benutzerin oder den Benutzer: langweilig oder interessant, schön oder hässlich, auf Ideen bringend oder steril, wohltuend oder angsteinflößend.“ (Heimgartner 2014, S. 49)

Arno Heimgartner betont hier die Omnipräsenz von Räumen und ihre existenzielle Bedeutung für unsere Lebensgestaltung. Sie prägen – vielfach unbewusst – unseren Alltag und das Zusammenleben. Ihre Qualitäten ermöglichen, verhindern, konstruieren Verbindungen und Grenzen. Wir bahnen uns selbstverständlich den Weg durch das städtische Gefüge – manchmal mit Kindern im Gepäck. Doch wie ist eigentlich das Raumerleben der Kinder? Wie bewegen sie sich? Und wie eignen sie sich ihre Stadt an?

Es finden sich in den Sozialwissenschaften unterschiedliche Konzepte, die diesen Fragen nachgehen und die städtische Raumaneignung von Kindern behandeln. Martha Muchow hat den Prozess 1935 erstmals beschrieben, der seinen Ausgang im privaten Raum von Kindern nimmt. Ihr Zuhause und die unmittelbare Wohnumgebung haben eine zentrale Rolle im räumlichen Erleben. Hier wird viel Zeit verbracht und von hier aus wird die Welt erkundet. Ausgehend vom persönlichen Wohnraum werden das Wohnumfeld und der erweiterte Lebensraum in konzentrischen, zusammenhängenden Kreisen erkundet. Dieses Zonenmodell wurde laufend weiterentwickelt (vgl. Raphaela Kogler 2015, S. 46 f). Am Ende des letzten Jahrhunderts konzipiert Helga Zeiher das Inselmodell und stellt damit die veränderten Lebensbedingungen von Kindern dar. Sie beschreibt, dass sich der Lebensraum von Kindern nicht mehr von einem Zentrum in Kreisen ausbreitet, sondern der private Wohnraum wie eine Insel im städtischen Meer liegt. Weitere vereinzelte Inseln liegen entfernt und losgelöst davon. Die Autorin stellt fest: „Der individuelle Lebensraum ist fragmentiert, er ist räumlich, zeitlich und sozial verinselt. Die räumlichen Distanzen zu überwinden, braucht Zeit und das soziale Leben braucht feste oder jeweils verabredete Termine.“ (Zeiher 2018, S. 31) Räume des Kinderalltags, wie Schulen, Betreuungseinrichtungen, Freizeitangebote, Spielplätze etc. befinden sich also oftmals vom Wohnort entfernt und Kinder können sie meist nicht selbstständig erreichen – sie sind von der Mobilität ihrer Eltern abhängig (vgl. Kogler 2015, S. 47). Das liegt daran, dass das „Meer”, also der öffentliche Raum, durch die dominante motorisierte Verkehrsinfrastruktur nicht auf die Bedürfnisse der Kinder reagiert. Wer sich diesen Strukturen widersetzt, wer zum Beispiel eine Straße zum Spielplatz umfunktionieren will, begibt sich in Lebensgefahr (vgl. Zeiher 2018, S. 34). Außerdem ist die Stadt von Konsumräumen geprägt – Plätze zum konsumfreien Verweilen und Spielen sind hingegen rar.

Das war nicht immer so, wie Waltraud Gspurning (2014) zeigt: „War der öffentliche Raum, respektive die Straße in einer Stadt, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie ein Ort der Begegnung, an dem gearbeitet, kommuniziert und – etwa durch die Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten – zu einem Teil auch gewohnt wurde, so ist dieser öffentliche Raum der Straße durch die Erfindung und Etablierung des Automobils immer mehr zu einem Durchgangs- bzw. Durchfahrort geworden. Auf der Straße wohnende, arbeitende und kommunizierende Menschen wurden dadurch vom öffentlichen Ort der Straße verdrängt und wandten sich zunehmend den privateren Innenhofseiten ihrer Häuser zu.“ (Gspurning 2014, S. 7) Die Nutzung des öffentlichen Raums hat sich also verändert. Helga Zeiher spricht in diesem Zusammenhang von der zunehmenden Verhäuslichung der Kindheit (siehe dazu Zeiher 2018, S. 32).

Zudem sind das Wohnumfeld in Siedlungen, also Grünflächen, verkehrsberuhigte Zonen und Begegnungsorte und Kinderspielplätze durch dichte Bebauung oftmals knapp bemessen, wenig attraktiv und monofunktional gestaltet. „Ballspielen verboten” sieht man auf Schildern geschrieben. Wenn Kinder dennoch in ihrer Siedlung spielen, kommt es vielfach zu Konflikten mit ruhebedürftigen Personen.

Diese Problematik ist gerade für sozioökonomisch benachteiligte und armutsgefährdete Familien relevant. Das Wohnumfeld von Familien mit günstigerer Ressourcensituation ist nämlich oftmals attraktiver, was dazu führt, dass Kinder mehr Zeit unbeaufsichtigt und sicher im Freien spielen können, wie die Kinderstudie „Raum für Kinderspiel!“ zeigt: „Die Zeit, die 5- bis 9-jährige Kinder mit freiem Spielen im Umfeld ihrer Wohnung verbringen können, hängt vor allem von dessen Beschaffenheit, also von der Aktionsraumqualität ab. Ist die Aktionsraumqualität sehr schlecht, können rund drei Viertel der Kinder überhaupt nicht draußen spielen und über 80 % müssen beim draußen Spielen beaufsichtigt werden.” (Zeiher 2018, S. 38)

Institutionalisierte, eigens für Kinder geschaffene Räume, sollen das kompensieren: Schulen, Spielplätze, Freizeitangebote und Betreuungseinrichtungen prägen die Kindheit der letzten Jahrzehnte. Dass es diese Räume für Kinder braucht, ist unumstritten. Doch welche Qualitäten haben Sie? Räume für Kinder sind jedenfalls sicher konzipiert, „kinderfreundlich” und eigens für sie designt. Das führt zu monofunktionalen, vordefinierten, institutionalisierten, vielerorts langweiligen und beschränkten Räumen. „Jedes Gerät auf dem Spielplatz ist für bestimmte Tätigkeiten und Bewegungsabläufe vorgesehen: Auf der Schaukel schaukelt man, von der Rutsche rutscht man, auf der Wippe wippt man. Die vermehrte Institutionalisierung von Betreuung und Freizeitaktivitäten schränkt Kinder zunehmend auf Tätigkeiten ein, die Erwachsene für sie konzipieren, anleiten und beschränken, und schließt sie aus dem öffentlichen Stadtraum aus.” (Zeiher 2018, S. 32).

In den Sozialwissenschaften gibt es vielfach Stimmen, die neben institutionalisierten Räumen vermehrt für Räumlichkeiten plädieren, die nicht für Kinder gemacht sind, sondern vielmehr Möglichkeiten zur Raumaneignung bieten. Damit ist der kreative Prozess von (Um)gestaltung, manchmal Zweckentfremdung von Gegenständen und Räumlichkeiten gemeint. Kinder setzen dabei ihre eigenen Ideen um und konstruieren ihre persönlichen Räume. Beispielsweise rutschen sie die Rutsche am Spielplatz eben nicht herunter, sondern funktionieren sie zum abenteuerlichen Wasserfall um oder lassen auf der Parkbank ein Märchenschloss aufleben. Dafür braucht es Freiräume im zeitlich und räumlich (von Erwachsenen) organisierten Alltag der Kinder. Rudolf Egger und Sandra Hummel beschreiben beispielsweise den Schulweg als zentralen Entdeckungs- und Lernraum, der Kindern als Raum zwischen fremdbestimmten Welten abhandengekommen ist: „Er ist jene zu überwindende Strecke, die zwischen der eher kleinräumigen, konkreten, familiären Welt und der außerfamiliären Welt liegt [….]. Der Schulweg ist eine eigene Welt des Lernens für sich mit kleinen und großen Gelegenheiten, sich die Welt anzueignen.“ (Egger/Hummel 2016, S. 3) Der Autor und die Autorin fordern deshalb die Rückeroberung des öffentlichen Raums als Lernort: „Soll sich ihr Leben nicht nur auf ‘Insel- und Separierungsorte’ beziehen, die vom Rücksitz der Autos betrachtet werden, muss die Sicherung, die (Wieder-)Herstellung von Schulwegen garantiert werden (…).“ (Egger/Hummel 2016, S. 36) Auch die Umweltorganisation Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) engagiert sich dafür in unterschiedlichen Aktionen und bietet Materialen zur selbstständigen und sicheren Schulwegerkundung.

Städtische Räume werden künftig nur kindergerecht sein, wenn man die Perspektive und den Alltag von Kindern selbstverständlich in der Planung mitdenkt. Es wird in diesem Zusammenhang vielfach für Partizipation von Kindern in der Planung und Stadtentwicklung plädiert. In Graz bietet das Kinderbüro breite Expertise für Strategien für kindgerechte Wohn- und Lebensumfelder und publiziert zum Thema kindergerechtes Planen, wie beispielsweise hier. Mehr zu diesem Thema kann man ebenso hier, hier oder hier nachlesen.

Übrigens, aktuell gibt es im Grazer Kindermuseum Frida und Fred Ausstellungen zum Thema Planen und Bauen zu erkunden!

 

 

 

Literatur

Egger, Rudolf/Hummel, Sandra (2016): Lernwelt Schulweg. Projektbericht. Online unter: https://static.uni-graz.at/fileadmin/urbi-institute/Erziehungs-Bildungswissenschaft/Angewandte_LW/Texte/Projektbericht_Lernwelt_Schulweg.pdf [zugegriffen am 11.04.2023]

Heimgartner, Arno (2014): Raumbedürfnisse. In: Arlt, Florian/Gregorz, Klaus/Heimgartner, Arno (Hrsg.): Raum und Offene Jugendarbeit. Wien: Lit, 49 – 64.

Kogler, Raphaela (2015): Zonen, Inseln, Lebenswelten, Sozialräume. Konzepte zur Raumaneignung im Alltag von Kindern. In: Scheiner, Joachim /Holz-Rau, Christian (Hrsg.): Räumliche Mobilität und Lebenslauf, Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Zeiher, Helga (2018): Kindheit und Stadträume – Wandel in den letzten Jahrzehnten. In: Bundesinstitut für Bau-, Stadt-, und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Stadt(t)räume von Kindern. Kinderorientierte Stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung. Heft 2/2018. Bon: Franz Steiner Verlag, 40-51.

 

 

 

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Von: Viktoria

24. April 2023

Bild: Ondřej Šponiar auf Pixabay

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