Annemarie Moser ist Vorständin des Viktor Frankl Zentrum Wien, wirkt im Lehrgang Logopädagogik und ist begeisterte Ressortleiterin des weltweit ersten Viktor Frankl Museums, das auf niederschwellige und sinnlich-spielerische Weise Frankls Denken näherbringt und heute weltweit großen Zuspruch erlebt. Wir sprechen im Interview über den Begründer der Logotherapie und fragen: „Was können wir von Viktor Frankl über unsere Konflikte lernen?”.

Ich freue mich riesig über dieses Interview! Ich sage auch, warum! Ich bin Mutter von vier Kindern und vor rund einem Jahr wurden bei uns zu Hause viele Fragen über den Ukrainekonflikt gestellt… Es war eine Ohnmacht zu spüren, auch bei den Kindern. Wir hatten das Gefühl, nichts unternehmen zu können. Dann erinnerte ich mich an Frankls Auseinandersetzung zum Thema Frieden und ich habe seine Familie dazu befragt: Tatsächlich hat Frankl versucht, eine Vereinigung für den Frieden zu gründen. Die Texte, die er dazu verfasst hat, haben wir später weiterverarbeiten und hier veröffentlichen dürfen.

Und damit sind wir bereits mitten im Thema! Ich möchte vorweg eine Frage zu Frankls Lebensweg stellen: Was sollten wir zunächst über seine Biografie wissen?

Frankl ist eines der größten Vorbilder in Sachen Friedensfähigkeit gemeinsam mit vielen anderen Holocaustüberlebenden, die sich oft für Pazifismus und Frieden einsetzen. Er ist in der Zwischenkriegszeit – trotz widriger Umstände – sehr behütet und geborgen aufgewachsen. Er hat über seine liebenden Eltern mit großem Respekt und Dankbarkeit gesprochen. Auf den Straßen waren Leid und Versehrtheit sichtbar und die Zeit war von Nihilismus und Pessimismus geprägt: Frankls Eltern waren dennoch zuversichtlich! Dieses prägende Elternhaus könnte man in der heutigen Sprache als Resilienzfaktor beschreiben. Frankl hatte also Vorbilder und entwickelte schnell einen starken Willen. Nie wollte er sich nihilistisch reduzieren lassen im Sinne von: „Du bist einer von vielen.” oder „Du bist nur jemand, der CO2 produziert.”. Er war sehr früh, schon in der Gymnasialzeit ein Denker. Vielleicht würde man heute sagen, er war ein Nerd (lacht). Später hat er Medizin studiert, hat sich mit Freud und Adler befasst und ist seinem eigenen Gedankengut treu geblieben. Auch das zeugt für mich von Friedensfähigkeit. Er hat sich nicht verbiegen und unterkriegen lassen.

Während des Krieges und im Konzentrationslager hat er seine Lehre bis aufs Letzte durchexerziert. Also die Frage: „Kann ich tatsächlich an einen Sinn des Lebens glauben, wenn er noch so von äußeren Umständen und inneren Zuständen verschüttet ist?“. Und ich glaube, das macht Frankl so besonders: Er hat sich so laut für den Frieden eingesetzt, obwohl er selbst mitten im Krieg gestanden ist. Seine Eltern, sein Bruder und seine erste Frau wurden in Konzentrationslagern ermordet.

In Frankls Aufruf für den Frieden, der 1946 erschienen ist, sind weder Groll noch Rachegelüste zu lesen. Er empfand Trauer, tiefe Trauer und er verspürte wohl eine Weile Suizidalität. Aber von Aggression, oder von dem Drang nach einem Vergeltungsschlag war keine Spur. Er hat sich davon ununterbrochen distanziert. Trotz dieser Tiefpunkte des Lebens hat er immer wieder glauben können, dass es einen Willen zum Sinn gibt und dass man ihn beweisen kann, indem man ihn vorlebt.

Sie haben nun bereits den Bogen zwischen Frankls Biografie und seiner Friedensfähigkeit gespannt… Eine allgemeine Frage: Was ist ein Konflikt? Wie, meinen Sie, würde Frankl den Begriff beschreiben?

Im ersten Moment möchte man meinen, man brauche zwei Personen für einen Konflikt. Aber nein, es braucht bloß zwei Standpunkte, die scheinbar unvereinbar sind. „Scheinbar” deshalb, weil das Herz noch nicht mitgeredet hat. Frankl selbst war – und das wird mir mit zunehmender Lebenserfahrung bewusst – ein Mensch, der andere Menschen tatsächlich und wahrhaftig geliebt hat. Anders kann man gar nicht begreifen, dass dieser Mann trotz seiner Lebenserfahrungen noch immer an das Gute im Menschen appelliert.

Wenn man Frankl gefragt hätte, was ein Konflikt sei … dann würde er wahrscheinlich von Missverständnissen, von mangelnder Verständigung sprechen und vor allem von zu wenig Willen, das Gegenüber zu verstehen. Konflikte beginnen dort, wo man selbst verstanden werden will und wo es nicht darum geht, dass man sein Gegenüber versteht. Frankl würde fragen, wo genau sein Gegenüber versucht, mit seinen Handlungen, mit seiner Sprache, das Gute hervorzubringen. Und man selbst kann über den Groll und den Hader hinwegsehen und fragen: „Wozu fordert mich dieser Konflikt heraus?”.

Frankl hat in jedem Menschen das Streben nach Sinn gesehen. Und dabei möchte ich von gesunden, auch psychiatrisch gesunden Menschen sprechen. Kranke Menschen klammere ich bewusst aus, denn ihre Krankheit ist ein Sinnappell und erklärt den Auftrag, dennoch das Gute in ihr zu sehen. Der gesunde Mensch ist jedenfalls mit einer Sinnstrebung ausgestattet. Das bedeutet, das Gute, das Lebensförderliche für mich und mein Umfeld zu suchen. Frankl hat das jedem Menschen zugesprochen. Apriori.

Natürlich gibt es Menschen, die schuldhaft agieren. Sie wissen, dass sie etwas Böses tun und verfolgen es dennoch. Ein Beispiel dazu aus der Sandkiste wäre folgendes: Ein Kind nimmt ein Schauferl und zieht’s dem Kontrahenten fest über den Kopf. Ja, ab einem gewissen Alter, spätestens in der Volksschule wissen sie ganz genau, dass man das Schauferl niemandem drüberziehen darf, also dass das nicht in Ordnung ist. Und auch bei Erwachsenen ist es so. Es gibt Menschen, die Leid bewusst vermehren: Sie sind vom Weg der Sinnstrebung abgekommen.

Frankl hat zudem jedem Menschen eine personale Verantwortung zugesprochen. Er hat sogar im KZ gesagt: „Du entscheidest dich, das zu tun. Dafür trägst du die Verantwortung. Aber das hat nichts mit mir zu tun. Ihr könnt mir alles antun, doch ich habe in der Hand, wie ich darauf reagiere.” Und das selbige hat er seinem Gegenüber zugesprochen: „Selbst, wenn du gezwungen wirst, Mithäftlinge zu verprügeln, kannst du dich weigern!”.

Doch nicht einmal in Bezug auf die KZ-Zeit macht Frankl Vorwürfe: Wer könne erwarten, dass jemand sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzt, um jemanden Fremden zu retten? Wer könne das schon erwarten? Das wäre Heroismus und Heroismus, so Frankl dürfe man nur von sich selbst erwarten.

Die Eigenverantwortung gehört für mich zentral zu Frankls Menschenbild, also die Möglichkeit, frei zu antworten, zu reagieren. Er spricht in diesem Zusammenhang über die „Trotzmacht des Geistes” – was meint er damit?

Noch vor dem Krieg hat Frankl Die ärztliche Seelsorge geschrieben. Er beschreibt darin, dass Menschen mit ihren traumatischen Erfahrungen sehr unterschiedlich umgehen und fragt nach Gründen dafür. Er sieht sie in der Sinnstrebung und der Geistigen Dimension des Menschen. Das Manuskript des Buches hat Frankl im Konzentrationslager verbrennen müssen, zum Glück hat ein Freund von ihm ein zweites aufbewahrt.

Elisabeth Lukas, Schülerin Frankls, hat das Aggressions-Modell von Dollard und Miller erweitert, sie kennen es vielleicht. Körper und Psyche arbeiten eng zusammen. Wenn der Mensch frustriert oder wütend ist, entsteht Aggressionsenergie. Also wenn die Sinnesorgane etwas wahrnehmen, das unangenehm oder gar gefährdend wirkt, schüttet der Körper Hormone aus, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen. Das ist etwas Animalisches. So kann sich das schwerverletzte Tier aus dem Maul des anderen retten oder eine halbtote Maus mit großer Geschwindigkeit flüchten. Doch dann kommt der Mensch und sein Geist ins Spiel! Das Geistige können Sie sich wie einen Raum vorstellen, der sich zwischen Reiz und Reaktion befindet [1]. Diesen Raum kann man nutzen, um seine eigenen Emotionen und Bedürfnisse zu reflektieren und um die Zielsetzung der Handlung zu bedenken: Worum geht es hier eigentlich? Wer will ich sein? Hier drinnen liegt das zutiefst Menschliche, die Möglichkeit, auf eine nur scheinbar vollendete Situation frei zu reagieren. Sodann wird erst die Situation durch unser Zutun vollendet. Es ist Trotzmacht, trotz einer Frustration Handlungsspielräume zu sehen.

Auch mit Kindern kann man das üben, indem man sich Sätze zurechtlegt, mit denen man aus Situationen aussteigen kann, die unangenehm sind. Zum Beispiel: „Ich gehe kurz auf’s Klo!”. Hier kann man Zeit gewinnen, sich das Gesicht und die Hände kalt abspülen und so wieder im Jetzt und bei sich ankommen.

Wenn ich diesen Raum nicht wahrnehme, gibt es drei leidvermehrende Wege: Autoaggression, also selbstverletzendes Verhalten, eine aggressive Gegenreaktion oder die Projektion auf Außenstehende. Wenn ich hingegen die Trotzmacht des Geistes übe und mich immer wieder auf das Gute, auf den Frieden ausrichte, werde ich zum:zur Friedensstifter:in. Wir prägen uns selbst – heute spricht man in diesem Zusammenhang von Epigenetik.

Wir prägen uns selbst… und wir prägen unser Umfeld und damit die Welt. Das ist wohl das Stichwort, das uns auf die ganz großen Konflikte zu sprechen kommen lässt. Auf den Begriff „Monoanthropismus“ bin ich erst zuletzt auf Ihrer Website gestoßen – was meint Frankl damit?

Er hat den Begriff unmittelbar nach dem Krieg eingeführt: Monoanthropismus heißt die eine Menschheit und Frankl meint, mehr denn je brauchen wir den Glauben an eine solche. Bei seiner berühmten Rede am Wiener Rathausplatz sagt er: „Wir müssen die Hände über alle Gräber und alle Gräben hinweg zueinander ausstrecken!”.

Er meint außerdem: Menschsein heißt, auf ein anderes Leben hin ausgerichtet zu sein. Das kann ein Mitmensch, aber auch die Natur oder ein Werk oder sonst etwas sein. Der Mensch strebt nach Verbundenheit mit der Welt. Aus aktuellem Anlass können wir die Klimabewegung betrachten. Sie zeigt, wie sich Menschen vernetzen und gemeinsam für etwas eintreten. In diesem Kollektiv kann man etwas Großes bewirken.

Frankl unterstellt – wie gesagt – jedem menschlichen Wesen diese geistige Dimension. Er spricht sie jedem zu. Damit trägt wiederum jeder Mensch Verantwortung für die Welt: „Diese Welt liegt im Argen”, sagt Frankl, „und wenn nicht jeder sein Nötigstes tut, dann wird alles immer ärger!” Und was ist das Nötigste? Dass jeder versucht, in seinem Kreise Frieden zu verbreiten!

Nun die wahrscheinlich persönlichste Frage: Wie begegnen Sie Ihren eigenen Konflikten?

Ich wachse daran… und versuche im Gespräch zu bleiben. Ich stelle viele Nachfragen, zum Beispiel: „Willst du wirklich streiten? Das können wir machen, aber dann sag’ mir zuerst, dass du es willst!”. Mit Kindern ist das ab einem gewissen Alter eine gute Sache. Sie rufen dann oft: „Nein!” (lacht). Und dann verschaffen wir uns Zeit: Einer von uns geht in den Garten und wir sprechen später in Ruhe miteinander: „Was ärgert dich? Was können wir tun, damit du dich nicht mehr ärgerst?”.

Ich glaube, man lernt, für den Frieden zu leben. Das sind kleine Schritte… Man darf sich nicht zu viel vornehmen. Ich sage auch nicht, dass es einfach ist (lacht). Ich sage nur, dass es möglich ist. Vor kurzem hat eine Jugendliche gesagt: „Hoffnung ist ein Auftrag.” Und das sehe ich auch so. Hoffnung ist nicht etwas, was uns zufällt. Hoffnung zu haben heißt, einen Auftrag zu sehen und mitzuarbeiten an einer Welt, auf die wir hoffen dürfen.

Sie schildern den Bedarf an Entschleunigung im Gespräch und ich habe den Eindruck, Sie leben Verständigung und das Verstehenwollen. Sie leben die Haltung, dass wir inneren Frieden und Frieden in unserem unmittelbaren Umfeld, in die Welt hinaustragen können. Was wollen Sie abschließend Menschen mitgeben, die in einem Konflikt stehen?

Frieden auf der Welt beginnt mit Frieden in mir. Aber ich glaube, das ist der schwierigste Weg, weil wir viele Bedürfnisse haben und oft unersättlich zu sein scheinen. Wir glauben, all diese Bedürfnisse zu klären und erfüllen zu müssen. Man kann den Weg auch umgekehrt verfolgen: Wenn man sich im Außen, im Zwischenmenschlichen als sinnvoll erlebt, kann man in seinem Leben zufrieden sein. Bei Kindern ist das noch so unverfälscht sichtbar: Wenn sie ihr Jausenbrot teilen, haben sie zwar selber noch ein bisschen Hunger, aber es macht sie wahnsinnig zufrieden und stolz, dass sie es gemacht haben. Ja, und genau so sehe ich das auch bei Erwachsenen. Frankl sagt, es geht nicht ums Haben, denn das ist verlierbar, es geht ums Sein.

Und ich glaube, es geht vor allem um Toleranz. Das heißt nicht, dass man die Ansicht des anderen teilt, sondern nur, dass man dem anderen das Recht einräumt, anderer Ansicht zu sein. Das ist der erste Schritt in Richtung Verständigung. Und ich glaube abschließend, die wesentliche Nachricht ist: Der Frieden beginnt bei uns zu Hause, jeden Morgen am Frühstückstisch.

 

[1] Covey, Stephen R./Merrill, A. Roger/ Merrill, Rebecca R./Mader, Friedrich (2007): Der Weg zum Wesentlichen: Der Klassiker des Zeitmanagements. Campus Verlag.

 

One Comment

  1. Franz J. 27. Februar 2023 at 8:59 - Reply

    Im 21. Jahrhundert findet man Kriege fast aussschließlich nur mehr in Ländern, in denen es bereits Gewalt in den Familien gibt (körperliche Bestrafung der Kinder, häusliche Gewalt gegen Frauen). Diese “Kultur der Gewalt” gibt es auch seit langem in Russland – und Putin selbst hat als Kind Gewalt erlebt. Man muss daher bei allen zukünftigen Bemühungen um Frieden den Fokus auch auf Kinderschutz (Franz Jedlicka: Die vergessene Friedensformel) und die Gleichberechtigung von Frauen (Valerie Hudson et.al: Sex and World Peace) legen.

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